Mittlerweile ist es ein gewohnter Anblick: Im Herbst füllen sich die Wipfel und Zweige auf der Vogelinsel im Kiessee mit rastenden Kormoranen, Grau- und Silberreihern. Seit die Winter milder werden, verzichten immer mehr Vögel auf den langen und nicht ungefährlichen Flug in südliche Gefilde und verbringen den Winter näher bei ihren sommerlichen Brutgebieten. Neben Kormoranen und Reihern finden sich am Kiessee auch Zwergtaucher, Blässhühner und Teichhühner ein. Stockenten und die ebenfalls hier brütenden Graugänse bleiben gleich ganz da. So wird nicht nur der riskante Zug über weite Strecken vermieden. Im Frühjahr sind die Tiere auch eher wieder zurück in ihren Brutgebieten und können dort als erste die besten Reviere besetzen.
Aber was passiert, wenn die Temperaturen wider erwarten doch einmal länger als ein paar Tage unter den Gefrierpunkt sinken?
Besonders Wasservögel stehen dann vor einer schwierigen Entscheidung. Sollen sie vor dem Wintereinbruch nach Süden flüchten? Oder ist es besser abzuwarten und darauf zu setzen, dass die Kälte nicht lange anhält und nicht alle Nahrungsgewässer zufrieren? Beides ist riskant. Kein Vogel kann wissen, wie weit es bis zum nächsten offenen Gewässer ist und ob die Winterflucht bei eisigen Temperaturen gelingt. Bleiben sie aber und frieren alle Gewässer länger zu, sterben sie schon nach wenigen Tagen den Hungertod.
Und tatsächlich sieht es so aus, als würden die Tiere diese schwierige Entscheidung ganz individuell treffen.
Die ersten Schneefälle Ende November und Anfang Dezember 2022 beeindrucken die Vögel noch nicht. Gut 60 Kormorane, 20 Silberreiher und ein Dutzend Graureiher haben sich am Kiessee eingefunden, suchen hier und in der Umgebung nach Nahrung und verbringen die Nächte im dichten Geäst der Vogelinsel.
Doch dann bleibt die Kälte und der Kiesse beginnt zuzufrieren. Kormorane und Reiher versammeln sich gemeinsam an eisfreien Uferstellen oder weichen auf die nahe Leine aus. Mit jedem folgenden Kältetag aber werden es weniger.
Mitte Dezember ist der Kiessee vollständig mit Eis bedeckt und Silber- und Graureiher sind verschwunden. Auch die Zahl der Kormorane hat sich halbiert. Nach knapp zwei Wochen Dauerfrost harren noch etwa 20 Tiere auf der Vogelinsel aus. Zwar wird es ab dem 19. Dezember sprunghaft mild, bis sich größere Lücken in der Eisdecke zeigen, wird aber wohl noch eine weitere Woche vergehen. Wie viele Kormorane den winterlichen Nahrungsmangel überleben, bleibt abzuwarten. Aber auch wie viele der vor und während des Kälteeinbruchs weiter gezogenen Tiere es in wärmere Gebiete geschafft haben, ist ungewiss.