Auf dem ehemaligen Gelände der Gothaer muss ein artenreicher Gehölzstreifen einem Parkhaus weichen.

Gut einen Meter über dem Boden umschließt der Greifarm den Baum, dann schneiden hydraulische Stahlscheren durch den Stamm, als wäre er aus Butter. So abgeschnitten wird der Baum vom Bagger einfach hochgehoben, zur Seite geschwenkt und abgelegt. Was in mehr als 30 Jahren gewachsen ist, liegt nach wenigen Sekunden als Holzabfall auf der nackten Erde.

Wohnungen statt Parkplätze

Am Weißen Steine, 37085 Göttingen, Deutschland

Das ehemalige Gothaer-Gelände im südöstlichen Stadtgebiet von Göttingen: Um 1900 eine Kaserne (ab 1936 Lüttich-Kaserne), errichtete das Versicherungsunternehmen hier in den 1970ern seinen Hauptsitz. Bürogebäude und Parkplätze für viele hundert Mitarbeiter/innen, umgeben von einem großzügigen Park mit Teich. Nachdem die Versicherung Anfang der 2000er schrumpfte und ihren Hauptsitz verlegte, wurden die Büroflächen vermietet. Unter anderem arbeiten hier nun Bedienstete verschiedener Ämter der Stadt Göttingen. Ein großer Teil der Gebäude steht aber leer.

Ein großes, teilweise ungenutztes Areal fast mitten in der Stadt – was liegt da näher als dort dringend benötigte Wohnungen zu bauen? Die ersten Planungen begannen schon vor über 10 Jahren. Investoren fanden sich und sprangen wieder ab, ein neues Konzept wurde entwickelt. 2020 begannen die Bauarbeiten.

Und so sehen die Pläne aus: Ein neues Studentenwohnheim an der Geismarer Landstraße und rund 450 Wohneinheiten, beides größtenteils im „gehobenen Preissegment“. Der gesetzlich vorgeschriebene Anteil bezahlbaren Wohnraums wird längs der Breslauer Straße errichtet, direkt gegenüber der Feuerwehr, die dort Tag und Nacht mit Blaulicht und Martinshorn zu ihren Einsätzen ausrückt. Vorgeschrieben sind auch 0,7 Parkplätze pro Wohneinheit. Die kommen in Form von Tiefgaragen unter die neu gebauten Häuser. Wohin nun aber mit den gut 250 Parkplätzen für die arbeitenden Menschen in den Büros? Dafür fand man an der Nordseite des Geländes ausreichend Platz für ein langgezogenes, zweistöckiges Parkhaus.

Parkplätze statt Natur

Ausreichend Platz? Tatsächlich wächst dort ein teilweise 20 Meter breiter Streifen aus Ahorn, Eichen, Birken, Eschen und Weißdorn. Zwischen den Bäumen dichtes Gebüsch, überwuchert von Knöterich und Waldreben. Seit 30 Jahren wachsen die Bäume, einige sind 20 Meter hoch. Gerade die dichte, geschlossene Vegetation über mehrere Etagen macht den ökologischen Wert des Gebietes aus. Hier tummeln sich Insekten und mehr als 20 Singvogelarten sind über das Jahr anzutreffen, gut die Hälfte davon brütet hier. Dazu Eichhörnchen und Igel. Im Sommer kreisen dutzende Mauersegler über dem Areal und abends jagen Fledermäuse in den angrenzenden Gärten und zwischen den Bäumen.

180 mal 20 Meter Natur in der Stadt. Ein kleines Gebiet, aber seit Jahrzehnten weitgehend ungestört und voller Leben. Ein Rückzugsort für über 20 Vogelarten und eine grüne Oase für die über 120 Bewohner der direkt angrenzenden Häuser.

Aber Parkplätze sind natürlich wichtiger.

Ein ehemaliger Oberbürgermeister der Stadt hatte in den 1990ern den Anwohnern versprochen, diesen Streifen als grünen Sichtschutz anzulegen. Ein Ausgleich für die damals neu gebauten, 6-stöckigen Bürogebäude. Er ist schon lange nicht mehr im Amt, sein Versprechen offenbar auch nicht.

Zwar soll das Parkhaus später eine Dachbepflanzung erhalten und der Bereich bis zur Grundstücksgrenze neu bepflanzt werden. Bis dort zumindest wieder ein grüner Sichtschutz gewachsen ist, werden aber mindestens 10 Jahre vergehen, ein gleichwertiger Lebensraum für die Vogelwelt wird dort niemals mehr entstehen.

Krasse Fehlplanung

Besonders erwähnenswert ist auch, dass ohnehin rund 60 Parkplätze buchtförmig in den Grünstreifen integriert waren. Zudem steht ein großer Teil der Büros seit Jahren leer und auf dem gesamten Areal stehen nie mehr als 100 Autos. Daraus ergibt sich eine einfache Rechnung: Durch die Umwandlung der großen Parkplatzflächen in Wohngebäude fehlen netto gerade einmal 40 Stellplätze für PKW. Als Ausgleich werden die verbliebenen 60 Stellplätze mit einem Parkhaus für 250 PKW überbaut. Hier wird nicht nur Natur zerstört, sondern auch Geld verschwendet.

 

Zerstörung eines Lebensraums

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Unvernunft und Bequemlichkeit

Wohl niemand kann ernsthaft etwas dagegen haben, wenn leerstehende Büros und großflächige Parkplätze zu dringend benötigtem Wohnraum umgebaut werden. Aber ein Parkhaus mit mehreren hundert Stellplätzen?

Aber irgendwo müssen die Angestellten ihre Autos ja abstellen!

Müssen sie?

Die Bauarbeiten werfen ein Schlaglicht auf 70 Jahre „verkehrsgerechte“ Stadtplanung. Wo das eigene Auto Grundlage der Mobilität einer ganzen Gesellschaft und höchster Ausdruck individueller Feiheit ist, muss auch im Jahr 2020 kostbare innerstädtische Natur Parkplätzen weichen. Platz für „Stehzeuge“, Lärm, Abgase und Feinstaub statt einer grünen Oase voller Vogelgesang. Alles, damit Menschen mit dem Auto zur Arbeit fahren können.

Dabei ist das Auto in der Stadt das mit Abstand schlechteste Fortbewegungsmittel. Egal was man betrachtet – Fahrzeit, Kosten, Umweltauswirkungen, Gefährdung anderer – gegenüber ÖPNV und vor allem dem Fahrrad schneidet das Auto derart schlecht ab, dass nur ein einziges Argument für das Auto spricht: Bequemlichkeit.

Und was ist mit denen, die von Außerhalb zur Arbeit kommen?

Auch hier gibt es genügend Alternativen zum eigenen Auto. Warum sollte es unzumutbar sein, täglich 20 Kilometer mit dem Fahrrad zur Arbeit zu pendeln? Mit einem E-Bike selbst für völlig unsportliche Menschen kein Problem. Wer darauf besteht, dass mit dem Auto zu tun, mutet den Stadtbewohnern immerhin verstopfte Straßen, Lärm und Abgase zu. Konsequenzen, die deren Lebensqualität und Gesundheit massiv beeinträchtigen. Oder kann man nicht zumindest verlangen, Fahrgemeinschaften zu bilden? 2, 3 oder gar 4 Personen in einem Fahrzeug reduzieren den Verkehr und alle seine nachteiligen Auswirkungen um den entsprechenden Faktor.

Vernunft statt Bequemlichkeit, Rücksichtnahme statt Egoismus, Lebensqualität statt Verkehrskollaps – dann hätten die ohnehin vorhandenen 60 Parkplätze vor den nördlichen Bürogebäuden genügt und ein Stück wertvoller Natur in der Stadt wäre erhalten geblieben.

Ganze drei Tage dauert es, dann ist von dieser Natur nur noch nackte Erde übrig.

Vogelarten des zerstörten Gehölzstreifens

  • Amsel (Brutvogel)
  • Birkenzeisig (Zuggast)
  • Blaumeise (Brutvogel)
  • Buchfink
  • Buntspecht
  • Diestelfink
  • Dompfaff
  • Eichelhäher
  • Elster (Brutvogel)
  • Gartengrasmücke (Brutvogel)
  • Grünfink
  • Grünspecht
  • Habicht
  • Haubenmeise (Zuggast)
  • Hausrotschwanz (Brutvogel)
  • Haussperling (Brutvogel)
  • Kernbeißer
  • Kleiber
  • Kohlmeise (Brutvogel)
  • Mauersegler (Brutvogel)
  • Mönchsgrasmücke (Brutvogel)
  • Rabenkrähe (Brutvogel)
  • Ringeltaube (Brutvogel)
  • Rotkehlchen (Brutvogel)
  • Schwanzmeise
  • Seidenschwanz (Zuggast)
  • Star
  • Taube (Brutvogel)
  • Turmfalke
  • Wacholderdrossel
  • Zaunkönig (Brutvogel)
  • Zilpzalp (Brutvogel)