Misstrauisch beäugt das Buntspecht-Weibchen die ungewohnte Gestalt, die nur 10 Meter entfernt von ihrem Nistbaum auf dem Göttinger Stadtfriedhof aufgetaucht ist. Ihr Schnabel ist voll mit frisch gesammelten Schmetterlingsraupen, saftiges Futter für ihren Nachwuchs. Normalerweise hätte sie die Nisthöhle ohne Umschweife direkt angeflogen, jetzt ist sie hin und her gerissen zwischen dem fordernden Dauerpiepen ihrer Küken und vorsichtigem Sondieren der Lage.
Kasseler Landstraße 1, 37081 Göttingen, Deutschland
Der Grund für die Vorsicht bin ich. Den Menschen mit Stativ und Kamera in der Nähe ihres Nestes kann sie nicht einschätzen. Ist er eine Bedrohung oder harmlos? So fliegt sie zunächst in einigem Abstand hoch oben von Ast zu Ast, beobachtet genau meine Reaktionen und wartet ab. Erst nach gut 10 Minuten traut sie sich Stück für Stück näher ans Nest und füttert schließlich ihre Jungen.
Ganz anders dagegen das Männchen. Völlig unbeeindruckt von meiner Gegenwart fliegt der Buntspecht ein und aus, schafft frisches Futter heran und transportiert Abfall aus der Nisthöhle. Das Weibchen sieht sehr wohl, dass ihr Partner sich von mir nicht beirren lässt. Aber sein Beispiel vermag ihre Vorsicht nicht erkennbar zu verringern.
Nestfotografie ist immer problematisch. Nicht ohne Grund verpflichten sich die Mitglieder der Gesellschaft Deutscher Tierfotografen (GDT) vollständig darauf zu verzichten. Groß ist das Risiko die Tiere zu stören und damit den Nachwuchs zu gefährden.
Wie aber ist die Situation in unmittelbarer Nähe menschlicher Behausungen, Parks oder Freizeitanlagen? Wenn Vögel in der Hecke eines Gartens nisten, in der Fassadenbegrünung oder drei Meter über einem Fußweg? Grünanlagen, Gärten und Parks unserer Städte sind längst zu einem wichtigen Rückzugsgebiet vieler Tierarten geworden. Die Tiere haben sich angepasst und gelernt, dass auch wenige Meter von ihrem Nest entfernt stehende oder vorbeispazierende Menschen in aller Regel keine Gefahr darstellen. Wenn ich als Naturfotograf durch meine Anwesenheit keinerlei Verhaltensänderung bei den Tieren erkennen kann, ja wenn ich mich von all den anderen Menschen um mich herum nur durch meine Kamera unterscheide, kann ich mir sicher sein, dass von mir keine Gefährdung ausgeht.
Viele Beiträge, Foto- und Videoaufnahmen in diesem Blog belegen, dass an die Nähe des Menschen angepasste Tiere eine große Toleranz gegenüber Nestfotografie haben und sich bei vorsichtiger und respektvoller Arbeitsweise nicht in der Versorgung ihres Nachwuchses beeinträchtigen lassen. Eindrucksvoll zeigt das die Produktion „Ein Nest ist nicht genug“.
Beim von mir besuchten Buntspecht-Paar auf dem Göttinger Stadtfriedhof ist es aber offensichtlich anders. Die Kiefer mit der Nisthöhle steht in einer ruhigen Ecke abseits der Hauptwege. Hierher verirren sich nur selten Besucher. Der Baum wird regelmäßig von Buntspechten für die Aufzucht ihrer Jungen genutzt und ebenso regelmäßig habe ich sie in den letzten Jahren dabei fotografiert. Bisher haben sich die Spechte dadurch nie stören lassen. Was ist jetzt anders?
Die naheliegende Erklärung: Das Weibchen hat wenig Erfahrung mit der Nähe von Menschen. Vielleicht ist es noch sehr jung und selbst ohne viel Kontakt zu Menschen aufgewachsen. Ihr natürliches Verhalten sieht in jeder plötzlichen Veränderung in ihrem Lebensraum eine mögliche Bedrohung, auf die sie mit Vorsicht reagiert. Erst recht, wenn ein ihr unbekanntes oder wenig vertrautes Tier auftaucht. Dabei geht es jetzt weniger um ihr eigenes Leben. Vielmehr vermeidet sie ihr Nest anzufliegen und dadurch den Standort ihrer Küken zu verraten. Das ich das Nest längst entdeckt habe, hat sie nicht verstanden.
Ich reagiere ebenso vorsichtig. Während sie mich misstrauisch beobachtet, stetig ihren Standort wechselt und dabei immer in sicherer Entfernung bleibt, verhalte ich mich ruhig und bewege mich so wenig wie möglich. Zwar gibt sie schließlich dem Drang nach, ihre Jungen zu füttern, doch schon beim nächsten Anflug 10 Minuten später zeigt sie wieder das gleiche Verhalten.
Damit ist für mich die Sache klar: Ich ziehe mich zurück und lasse die Spechte in Ruhe.
Irgendwann wird sich auch das unerfahrene Weibchen an die unmittelbare Nähe von Menschen gewöhnen oder sich zukünftig ein Brutrevier abseits von Menschen suchen.
Sofern sie denn eins findet.